Geboren wurde der Nasebaer nach dem vierten oder zwölften Bier in einer Hamburger Kiez-Kneipe. Es war ein lauer Frühsommerabend auf St. Pauli.
Fräulein Isa, mit der ich in ein angenehmes Gespräch am Tresen vertieft war, forderte mich auf, ihn auf einen Bierdeckel zu zeichnen. Wahrscheinlich hatte ich erwähnt, dass ich meinen Biersold als Grafiker verdiene. Es war aber schon später und ich weigerte mich. Zunächst.
Nach dem Aufwachen war mir übel. Im morgendlichen Bierdunst hatte ich vergessen, ob es ein Ameisenbär, ein Bierbär, einer mit ä oder was sonst was hätte werden sollen. Nach dem zweiten Kaffee war es klar. „Nasebaer“. Mit meinem Marmelade verschmierten Finger entstand die erste Zeichnung auf dem Handy. Fräulein Isa gefiel sie.
Also war er plötzlich da und quälte mich fortan mit seiner Anwesenheit. Überall stand er herum, saß im Park auf Bänken, grinste provokant aus einem Graffiti, mischte sich ein, veränderte und drängte sich in mein Blickfeld. Ohne Unterlass. Die Welt war voll von ihm. Zunächst noch unscharf, gewann er immer mehr an Konturen. Aber niemand anderes sah ihn. Also bleibt mir nichts, als ihn sichtbar zu machen. Weiterzeichnen.
Ein paar Wochen plus zwei Tage später. Der Sommer war fortgeschritten und die Sonne lugte faul hinter Wolken hervor, geschah es. Auf einem Sinologen-Kongress, im niedersächsischen Göttingen am Flüsschen Leine, zu dem der Nasebaer irrtümlich als Ehrengast eingeladen wurde, lernte er Fräulein Tommy kennen.
Am zweiten Tag regnete es. Von den Vorträgen war kein Wort zu verstehen (alle in Südchinesischer Mundart) und der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Scheiben. Um seinem unwiderstehlichen Schlafbedürfnis zu entkommen – er hatte die ganze Nacht an Fräulein Tommy gedacht – trank der Nasebaer Unmengen grünen Tee, der unablässig serviert wurde. Gegen Ende des Vortrages von Herrn Ling aus Qiannan, gegen 13:24h kollabierte er. Sein Chi versagte.
Das Erste, was er sah, als er die Augen öffnete, waren die besorgten Augen von Fräulein Tommy, eine Morgenlicht blinde Spitzmaus und Persischen Prinzessin, die als Dolmetscherin für Südchinesisch-Niederpersisch auf dem Kongress jobbte. Alles war gut.
Die turbulenten, Dopamin getränkten Tage, die dem Kongress folgten, möchte ich hier aus Diskretionsgründen verschweigen. Nur soviel, drei Monate lebten Fräulein Tommy und der Nasebaer in zügelloser, wilder Ehe in einem Vorort von Rhumspring-Hasenwinkel. Gemeinsame Reisen führten Sie nach Oeheim und in ein vornehmes Italienisches Restaurant am Ufer der Hamburger Außenalster, in dem sie aber leider nicht bedient wurden.
Der Nasebaer gehört einer zweidimensionalen, bundesdeutschen Randgruppe an. Er ist für 99,9999% der übrigen Bevölkerung unsichtbar, sexuell indifferent, hyperpolitisch, geschlechtsneutral männlich, vollständig unmusikalisch, zeitweise verträumt aber unerbittlich prophetisch, olfaktorisch hoch sensibel, pinkfarben attraktiv und multiple überpersönlich. Er neigt zu Trash, Übersinnlichkeit, tagespolitischen Kommentaren und natürlich Nonsense.
2020 wurde der Nasebaer angeblich bei Renovierungsarbeiten an der Wand eines Lesesaals der Göttinger Universitäts-Bibliothek, Zweigstelle Rhumspring-Hasenwinkel gesichtet. Die Quelle, ein Nordhessischer Schwarzarbeiter und Steuerhinterzieher, ist aber unglaubwürdig.
Was nur ich weiß. Der Nasebaer weilte zur Bewältigung eines frühbaerischen Traumas, sog. pränatale Inkompatibilität mit Murmeltieren, einen längeren Bierkur-Langzeitaufenthalt am Alpennordrand (Landkreis Miesbach) absolvierte. Wandergesellschaften wurden diesbezüglich besonders dienstags zwischen 9:45h und 13:28h, vor Schabernack oberhalb er Baumgrenze im traditionsbewußten Alpengau gewarnt.
Freitag, 14. Dezember 2024, 02:36 Uhr nachts. Schlafrauchpause am Fenster. Die Nacht ist klar, der Mond fast voll. Saturn und Neptun sind schon untergegangen. Im Nordosten glüht der rötliche Mars im Sternzeichen Krebs noch etwas nach. Am Firmament zieht der helle Jupiter meinen Blick auf sich, als aus dem Rauch meines Spiegelbildes, im Schwibbogen sitzend, die vertraute Kontur auftaucht. Nasebaer prostet mir mit einem Tumbler Thüringer Singlemalt zu. Ich erkenne zuerst seine große Nase, die er gern im Profil trägt, egal aus welcher Perspektive er betrachtet wird, dann das typische Aroma des Whiskys. Über seinen Schultern ragt der Fanon Papst Pius X. hinaus. Zu groß, denke ich. Zu alt, warum gerade der?
Liturgisch, meine Gedanken marternd, wiederholt er seinen Wunsch, die längste Seite im Internet möge von ihm handeln, ich hätte sie zu erschaffen und alle Nasebaer-Sichtungen sollen in zufälliger Reihenfolge in einem Social Media Account gepostet werden. „Mach Marketing. Außerdem stehen bald wieder Wahlen an.“ Das alles erreichte mich ohne einen Laut.
Nasebaer sei extra aus seinem nordkoreanischen Zwischenquartier, wo er einen Grafiker-Kollegen zu bekehren versucht hatte, gekommen, um mir mal wieder spürbar auf die Füße zu treten. „Gabe ist Gabe. Eine Verpflichtung gegenüber allen, die keinen Nasebaer sehen können.“ Derartig streng und humorlos hatte ich ihn nie erlebt.
Er sei erschöpft und alle Bekehrungsversuche am Nordkoreaner wären vergeblich gewesen. Die Trauer des Kollegen sei zu groß, seine Libido unter martialischen Parolen vergraben. Kommunismus hätte kein tiefreichendes Verständnis für Katzenbilder auf X und sei überhaupt gegen die Liebe.